Kürzungspläne im Siemens Schaltwerk Berlin

„Wir haben das Negative in viel Positives überführt“

17.08.2016 | Im Siemens Schaltwerk standen Mitte 2015 die Zeichen auf Entlassungen. Es ist anders gekommen – durch einen gewagten Plan des Betriebsrates, viel gewerkschaftliche Unterstützung und vor allem auch Dank der Beschäftigten. Ein Gespräch im Gießharzwerk mit dem Betriebsratsvorsitzenden Horst Hennig, Betriebsrat Rüdiger Gross und den beiden Metallern Andreas Kynast und Christian Frank über Schichtpläne und Sonntagsarbeit, Mitbestimmung und Fertigungstiefe und warum Andreas nun wieder ein soziales Leben führen kann.

(c) netzhammer & breiholz

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Im Gespräch von links nach rechts: Andreas Kynast, Horst Hennig, Christian Frank und Rüdiger Groß (c) netzhammer & breiholz

Im Juni 2015 überraschte der Siemens-Vorstand die Schaltwerker mit der bösen Nachricht, man stelle vier Bereiche des Werkes auf den Prüfstand und wolle bis zu 600 Arbeitsplätze abbauen. Konkret Behälterfertigung, Fadenwickelei, Gießharzfertigung und Montage. Die Fadenwickelei gibt es heute leider nicht mehr, die anderen drei Bereiche existieren jedoch noch und die einst höchst defizitäre Gießharzabteilung schreibt schwarze Zahlen, was ihren Bestand zumindest mittelfristig absichert. Sicher ist das nicht, oder?

 

Horst Hennig: Auf Sicht schon. Langfristig können wir das nicht übersehen. Der Auftragseingang ist ok, schießt aber auch nicht durch die Decke. Global stehen wir vor der Herausforderung, dass sich die Energieproduktion wandelt - von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern, von Großkraftwerken hin zu Wind- und Solarparks. Es werden also weniger Schaltanlagen im Hoch- und Mittelspannungsbereich benötigt, sprich genau die Produkte, die wir herstellen. Wir haben aber unseren Standort sichern, die Fertigungstiefe erhalten können. Nur dadurch konnten wir die Arbeitsplätze halten. Wir hoffen, sie sind heute sehr viel sicherer als vor 14 Monaten. Wir konnten in der Fadenwickelei verloren gegangene Arbeitsplätze sogar in die Gießharzfertigung übersiedeln. Das haben die Beschäftigten und der Betriebsrat durch sehr viel Engagement erreicht.

 

Wie empfandet Ihr die Arbeitsbelastung Mitte 2015?

 

Andreas: Wir standen unter permanentem Druck. In der Gießharzfertigung waren wir im Verzug und konnten eben nicht fristgerecht liefern. Das war sehr schlecht für den Standort und damit für die Beschäftigten, weil wir die Fertigungstiefe als Standortvorteil sehen. Wenn die aber nicht Just in Time liefert, haben wir auch keine guten Argumente, dass sie am Standort gehalten werden sollte. Wir hatten 2014 sehr viel Wissen verloren, weil von erfahrenen Kollegen die Arbeitsverträge nicht verlängert wurden. Isolierteile für Schaltanlagen zu gießen, ist ein komplexer Prozess. Zwar bekamen wir eine neue Gießharzanlage, aber richtig einfahren konnten wir die durch den Termindruck nicht. Was zu hohem Ausschuss, entsprechenden Kosten und Zeitverzögerungen führte.

 

Horst: Die schlechte Produktivität in der Gießharzfertigung führte einerseits zu Verlusten in diesem Bereich, strahlte aber auch negativ auf die Gesamtfertigung ab, weil sie stockte, die Bänder dann stillstanden. Da hatten wir also wenige Argumente, die Gießerei zu behalten.

 

Christian: Was aber nicht an den Kolleginnen und Kollegen lag, die sich ins Zeug gelegt haben. Wir haben Verbesserungsvorschläge gemacht, die wurden damals jedoch nicht gehört.

 

Wie hat der Betriebsrat auf die Ankündigung des Vorstandes reagiert?


Horst: Nachdem der Vorstand seine Pläne im Wirtschaftsausschuss verkündet hatte, haben wir mit Unterstützung der IG Metall einen Aktionstag veranstaltet. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen waren auf der Straße. Wir im Betriebsrat standen dann vor der Entscheidung, schlagen wir den üblichen Weg ein und handeln zum Beispiel Abfindungen aus. Oder wagen wir etwas Neues, wo wir anfangs nicht sicher sein konnten, dass es auch funktioniert! Aber wir waren überzeugt, dass wir die Gießharzfertigung produktiver fahren, die Produkte fristgerecht liefern könnten, wenn wir die Kolleginnen und Kollegen an den Entscheidungen beteiligen.

 

Rüdiger: Wir haben auf Empfehlung der IG Metall die Hilfe des Beratungsunternehmen Gruppe 7 in Anspruch genommen und ein Konzept ausgearbeitet. Die Gruppe 7 besteht aus Betriebswirten und Betriebswirtschaftlerinnen, die sich mit betrieblichen Kennzahlen auskennen, diese analysieren wie es die Business Unit von Siemens auch tut, aber mit dem Ziel, Lösungen für die Beschäftigten zu finden. Ohne die hätten wir das nicht bewerkstelligen können. Diese Pläne haben wir der Business Unit vorgestellt. Wir müssen überzeugend gewesen sein, denn sie stimmten den Plänen zu. Dadurch bekamen wir zumindest Gießharzfertigung und Behälterfertigung erst einmal von der Streichliste, haben uns aber auch sportliche Ziele gesetzt. Wir mussten beweisen, dass es mit den Mitarbeitern funktioniert.

 

Andreas: Wir hatten darüber hinaus das Glück, dass die Business Unit eine neue Bereichsleitung eingesetzt hatte, die unseren Vorschlägen offen gegenüberstand. Das war für den gesamten Prozess wichtig.

 

Wo aber lag die Crux?

 
Horst: Mit der neuen Bereichsleitung konnten wir Schwachpunkte besser ansprechen. Die Mitarbeiter wurden gehört, ihre Vorschläge umgesetzt. Grundsätzlich haben wir seit September 2015 drei Phasen durchlaufen. In allen drei Phasen haben wir die Kolleginnen und Kollegen eingebunden. In der Phase I mussten wir das Produktionsvolumen steigern, was zuvor nicht gelungen war und die Produktivität im Bereich steigern. Das haben wir mit einem anlagengesteuerten Schichtmodell geschafft. Das war ohne Sonntagsarbeit nicht machbar. In der zweiten Phase haben wir unser Schichtmodell angepasst, weil es arbeitsmedizinisch nicht funktionierte. Und in der dritten Phase, nachdem wir alles umgesetzt hatten, konnten wir den Betrieb auf eine 5-Tage-Woche zurückfahren und gleichzeitig die notwendigen Stückzahlen liefern.

 

Andreas: In der ersten Arbeitsgruppen saßen wir zusammen, haben die Produktion durchleuchtet, mit den Kolleginnen und Kollegen Schwachstellen identifiziert. Die Mitarbeiter an den Maschinen wussten genau, wann welche Teile durch Wartung ersetzt werden müssen. Unsere TEC-Kollegen, sie sind für Technik und Wartung zuständig, wussten wiederum, wie lange man die Maschinen im Volllastmodus fahren konnte. Zum Beispiel haben wir darauf hingewirkt, Fertigung und Wartung besser aufeinander abzustimmen und haben dafür auch über die Organisationsstruktur nachgedacht.

 

Horst: Bei all unseren Überlegungen wurde jedoch auch deutlich, dass wir nicht gleichzeitig die Anlagen optimieren und den Produktionsrückstand aufholen können. Das war im bis dato gefahrenen 17 Schichtsystem, drei Schichten pro Werktag, am Samstag zwei, nicht möglich. Deshalb haben wir schweren Herzens auch das Unmögliche gedacht, nämlich 21 Schichten zu fahren und damit den Sonntag einzuplanen.

 

Wie wirkte sich die Sonntagsarbeit aus?

 

Rüdiger: Wir hatten in der ersten Phase ein Schichtmodell entwickelt, das auf den neuesten Erkenntnissen der Arbeitsmedizin fußte. Danach musste jeder Beschäftigte zwei Tage früh, zwei Tage spät, zwei Nachtschichten ableisten, bevor er zwei Tage frei hatte.

 

Christian: Die Erkenntnisse der Arbeitsmediziner waren aber für die Katz! Die Erholungsphasen waren viel zu kurz und die Stimmung im Betrieb sackte in den Keller.

 

Andreas: Definitiv. Ich war körperlich und seelisch angeschlagen. Mein Privatleben ist zu 70 Prozent weggebrochen. Aber die Kollegen und Kolleginnen haben mitgezogen, weil sie auch die Alternativen kannten, nämlich möglicherweise den Job zu verlieren.

 

Wie hat der Betriebsrat reagiert?

 

Horst: Wir haben schnell mitbekommen, dass das eingesetzte Schichtmodell von der Arbeitsbelastung so nicht funktioniert. Wir haben deshalb nach drei Monaten die Vereinbarung mit dem Betrieb gekündigt mit dem Ziel, die Sonntagsarbeit zurückzufahren. Die Betriebsleitung hatte jedoch den Wunsch, die Rückstände gänzlich abzuarbeiten.  Dem haben wir unter der Bedingung zugestimmt, dass wir alle Beschäftigten einbinden. Dazu haben wir in jeder Schicht Runden gedreht, die Kollegen informiert und ihren Input abgefragt. Und damit Phase II eingeläutet.

 

Andreas: Wir haben dann in einer größeren Runde aus Betriebsräten, Mitarbeitern, den Technikverantwortlichen und den Führungskräften ein neues Schichtmodell ausgearbeitet.

 

Rüdiger: Das ist, und das muss man an dieser Stelle auch mal sagen, verdammt kompliziert, weil es so viele Parameter gibt, die man beachten muss. Trotz allem haben wir es nicht geschafft, dass jeder zwei Wochenenden frei hatte. Also haben wir noch bis Ende Juni sonntags gearbeitet und längere Ruhephasen eingeplant.

 

Horst: Gleichzeitig haben wir die Rückstände aufgeholt und wir haben die Produktivität um acht Prozentpunkte steigern können. Wir fahren heute die Anlagen sehr viel effizienter. All die Diskussionen und Beteiligungen haben dazu geführt, dass wir nun in Phase III die Vorteile des Schichtmodells nutzen können. Seit Juli arbeiten wir nur noch fünf Tage die Woche und liefern Just in Time. Der große Vorteil unserer Schichtmodelle – wir haben heute vier, die wir fahren können – ist ja, dass wir in Phasen, wo weniger zu tun ist, weniger arbeiten, die Zeit nutzen, um die Anlage weiter zu optimieren, Kollegen einzulernen, wichtige Abläufe neu zu denken. Vor allem ist es uns gelungen, eine ganz neue Arbeitskultur zwischen Betriebsleitung und Beschäftigten zu entwickeln.

 

Christian: Betriebsleitung und Beschäftigte spielen derzeit über Bande. Die Kolleginnen und Kollegen diskutieren regelmäßig. Wie wir derzeit zusammenarbeiten, ist super. Das habe ich die letzten fünf Jahre im Schaltwerk nicht erlebt. Ich finde, das Negative aus dem letzten Jahr haben wir in viel Positives verwandelt. Es gibt viel Unterstützung bei der Qualifizierung der Kollegen und Optimierung der Anlagen und Prozesse. Das tut gut. Die Geschäftsführung sieht inzwischen, was mit uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern alles geht.

 

Andreas: Das sehe ich auch so. Wir haben die Arbeitsplätze gerettet und am Sonntag arbeiten wir zurzeit nicht.

 

Hat sich die Anstrengung also gelohnt?

 

Horst: Sonntagsarbeit will nun wirklich keiner. Hätten wir aber nicht die Kosten mitgedacht und ein flexibles System vorgeschlagen, wären in der Business Unit deren Automatismen in Gang gesetzt worden, also Kosten senken, Fertigung auslagern, Beschäftige entlassen. Wir hätten darauf kaum noch Einfluss nehmen und die Arbeitsplätze erhalten können. So aber haben wir die Fertigungstiefe am Standort erhalten, haben die sehr gefährdete Gießharzfertigung durch das Engagement von Mitarbeitern und Betriebsräten wieder in den grünen Bereich überführt und ein Miteinander erreicht. Diesen kulturellen Wandel wollen wir weiter vorantreiben. Was wir in der Gießharzfertigung im Schaltwerk erreicht haben, strahlt auch auf Nachbarbereiche aus. Das ist für Beschäftigte wie Geschäftsführung eine gute Nachricht, weil es gemeinsam einfach besser läuft.

 

Von: mn

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