Die IG Metall im Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen kritisiert Europäischen Gerichtshof

04.07.2008 | Die Delegierten der Bezirkskonferenz sehen die deutsche Tarifautonomie durch die jüngste Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes gefährdet. In einer Resolution forderten sie die Bundesregierung am Wochenende auf, nationales Recht gegen EU-Recht zu verteidigen und eine "soziale Fortschrittsklausel" auf EU-Ebene durchzusetzen.

 

Wortlaut der Resolution:

 

Drei Jahre nach der Ablehnung des Entwurfs der EU-Verfassung von Maastricht in Frankreich und den Niederlanden haben nun die Iren auch den Vertrag von Lissabon in einem Referendum abgelehnt. Dies offenbart eine schwere Legitimitätskrise der EU bei den Bürgerinnen und Bürgern und eine Krise der europäischen Einigung. Zur gleichen Zeit betreibt der Europäische Gerichtshof (EuGH) seit Dezember 2007 in seiner Rechtssprechung eine massive Aushöhlung der Grundrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihrer Gewerkschaften in den Mitgliedsstaaten. Der EuGH hat in nur sechs Monaten in einer Serie von Urteilen das Streikrecht und die Tarifvertragsfreiheit substantiell beschränkt, sowie nationalstaatliche Regulierungen im Vergabe- und allgemeinen Arbeitsrecht aufgehoben. Als Begründung dafür dient immer der Schutz der unternehmerischen Grundfreiheiten im europäischen Binnenmarkt.

 

Mit Bezug auf bereits bestehende europäische Verträge begründen die Richter am EuGH eine unterschiedliche Rangfolge in der Bedeutung der unternehmerischen Grundfreiheiten einerseits und der sozialen Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer andererseits. Während die Grundfreiheiten des Kapitals als tragende Grundsätze des europäischen Rechts eingestuft werden, haben die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger lediglich den Status allgemeiner Rechtsgrundsätze. In der Entwertung der Arbeitnehmerrechte geht der EuGH jetzt soweit, dass er die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie und die Gewerkschaftsautonomie nicht mehr als Grundrechte einstuft, sondern nur noch zum Mittel und Instrument zum Schutz der Arbeitnehmer herabstuft. Der EuGH stellt darüber hinaus fest, dass europäisches Gemeinschaftsrecht nicht nur die Mitgliedsstaaten bindet, sondern dort auch direkt und unmittelbar die Gewerkschaften, weil das Verbot, die unternehmerischen Grundfreiheiten anzutasten „insbesondere für alle Verträge (…), die die abhängige Erwerbsarbeit kollektiv regeln sollen“ gelte.

 

Konsequent zu Ende gedacht kommt diese Argumentation einer Aufforderung an die europäischen Gewerkschaften zur Selbstauflösung gleich. Gewerkschaften wurden überall in Europa gegründet, um die Konkurrenz unter den abhängig Beschäftigten zu beschränken. Nur solange, wie Gewerkschaften im Kapitalismus dieses Ziel verfolgen, haben sie eine gesellschaftliche Existenzberechtigung. Die politische und soziale Perspektive, der die Europa-Richter zum Durchbruch verhelfen wollen, ist eindeutig: wenn dem Recht des Kapitals kein gleichrangiges Recht der Arbeit gegenübersteht, heißt die soziale Realität Unterdrückung, und Freiheit ohne Gerechtigkeit bedeutet immer Ausbeutung.

 

Diesem Weg in der EU müssen wir Widerstand und Alternativen entgegensetzen. Umgehend und kurzfristig brauchen wir im europäischen Vertragswerk eine „soziale Fortschrittsklausel“, die zwingend und unverrückbar im EU-Primärrecht verankert werden muss. In der EU muss gelten, dass es dort, wo es zum Konflikt zwischen den Grundfreiheiten des Binnenmarktes und den Grundrechten kommt, der Vorrang der Grundrechte effektiv gewährleistet wird. Nur so kann im Übrigen eine Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung im EU-Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland verhindert werden. Im Grundgesetz der Bundesrepublik haben das Sozialstaatsgebot und die Koalitionsfreiheit den Status, dass sie durch niemanden veränderbare Verfassungsnormen sind, deren Gewährleistung ebenso wie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums von jeder deutschen Regierung, jedem deutschen Parlament und allen Deutschen zu garantieren ist.

 

Das Sozialstaats-Gebot des Grundgesetzes – ein historischer Auftrag

 

Der Sozialstaatsauftrag des deutschen Grundgesetzes beruht vor allem auf einer historischen Erfahrung und Erkenntnis. Diese lautet: Der kapitalistische Markt ist ein äußerst leistungsfähiger Mechanismus zur Steigerung wirtschaftlicher Produktivität und zur Erzeugung wirtschaftlicher Innovationen. Aber mit einer gerechten Verteilung der Wertschöpfung, der Gewährung sozialer Sicherheit und der Ermöglichung demokratischer Teilhabe ist er heillos überfordert. Zudem stellt die Zusammenballung ökonomischer und politischer Macht in den Händen einer kleinen Elite eine ständige Bedrohung für die Demokratie dar. Hier sind Interventionen und Korrekturen durch demokratisch legitimierte Politik unverzichtbar. Diese Aufgabe obliegt vor allem einem handlungsfähigen und handlungswilligen Sozialstaat.

 

Der historische Sozialstaates – ein Erfolgsprojekt

 

Der nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgebaute Sozialstaat war, trotz seiner Mängel und Defizite, ein historisches Erfolgsprojekt der Arbeiterbewegung und eine zivilisatorische Errungenschaft erster Ordnung. Es ist notwendig und möglich, ihn nicht zu demontieren, sondern ihn reformorientiert weiter zu entwickeln. Nur so kann er unter den neuen Bedingungen der Globalisierung und der Verlagerung von Kompetenzen auf die europäische Ebene seinen sozialstaatlichen Auftrag erfüllen.

 

Der globale Finanzmarkt-Kapitalismus – eine Bedrohung

 

Bereits seit Jahren stehen sozialstaatliche Errungenschaften in Deutschland und Europa erheblich unter Druck. Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs vom nationalen Sozialstaats-Kapitalismus in einen globalisierten Finanzmarkt-Kapitalismus. Die Akteure und Spielregeln der internationalen Finanzmärkte dominieren bereits heute weite Lebensbereiche, insbesondere von Wirtschaft, Politik und Kultur. Vor allem die Unternehmen richten sich zunehmend an den maßlosen Renditen von Finanzmarktaktivitäten aus. Viele Regierungen, auch die in Deutschland, haben diese Entwicklung bewusst befördert: Durch eine Politik der Privatisierung sozialer Risiken, der Deregulierung der Arbeitsmärkte, der gezielten Schwächung von betrieblichen Interessenvertretungen und Gewerkschaften sowie der Öffnung der sozialen Sicherungssysteme für die Anlageinteressen der Finanzmarktakteure. Der Sozialstaat droht zum Wettbewerbsstaat zu werden.

 

Die solidarische Reformalternative – die andere Möglichkeit

 

Die Richtschnur einer solidarischen Reformalternative ist nicht weniger, sondern mehr Solidarität! Zentrale Stichworte dazu sind: eine neue Vollbeschäftigungspolitik, die auf tariflich gesicherte, sozial geschützte und ökologisch verträgliche, „Gute Arbeit„ für beide Geschlechter zielt; mehr Finanzstabilität und Solidarität durch die Weiterentwicklung der Sozialversicherungen zu allgemeinen Versicherungen, die alle Bürgerinnen und Bürger bzw. alle Erwerbstätigen einbeziehen; und mehr Demokratie in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Die Herausforderung besteht darin, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu regulieren und zu zivilisieren, um ihn auf einen anderen, sozialen Entwicklungspfad zu führen. Eine solche Politik kann sich umfassend auf den Sozialstaats-Auftrag des deutschen Grundgesetzes wie auf die Tradition des europäischen Sozialmodells berufen.

 

Erneuerung des Europäischen Sozialmodells – ein neues Leitprojekt

 

Gewerkschaften wie Regierungen der Mitgliedsstaaten müssen auch auf der europäischen Ebene einen unverzichtbaren Beitrag zur Zivilisierung des Finanzmarkt-Kapitalismus leisten. Gegenwärtig dominieren Wettbewerb und Marktintegration den Einigungsprozess. Das wird auch in Passagen des „Lissabonner Vertrages“, der kürzlich in Irland abgelehnt wurde, wie in den aktuellen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes deutlich. Daher ist eine grundlegende Neuausrichtung der Entwicklung der europäischen Union unverzichtbar. Wegweisend könnte hier ein neues Leitprojekt für die nächste Phase der europäischen Integration sein. Die IG Metall schlägt die „solidarische Erneuerung des europäischen Sozialmodells“ als ein solches Leitprojekt vor. Dieses könnte an der Tradition des „alten“ Europäischen Sozialmodells ansetzen, müsste dieses aber durch umfassende Veränderungen auf die Bedingungen des 21. Jahrhundert einstellen. Zentrale Elemente eines solchen „solidarisch erneuerten Sozialmodells“ müssten sein: Eine neue Finanz- und Geldpolitik, die ausdrücklich auch für die Förderung von Beschäftigung und Wachstum verantwortlich sein muss; verbindliche soziale Grundrechte und Mindeststandards; koordinierte Standards der Unternehmensbesteuerung; eine neue Priorität für öffentliche Güter sowie eine offensive europäisierte Tarif- und Organisationspolitik der Gewerkschaften. Hinzu kommen müsste eine umfassende Demokratisierung von Institutionen und Politikregeln in der europäischen Union. Ein europaweites Referendum über einen erneuerten Europäischen Grundlagenvertrag anlässlich der Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2009 könnte einen Meilenstein auf diesem Weg darstellen. Die Menschen in Europa brauchen einen neuen sozialen Gesellschaftvertrag.

 

Die Gewerkschaften – unverzichtbare Akteure!

 

Die Gewerkschaften sind ein unverzichtbarer Akteur in einem solchen Projekt. Sie müssen durch den Ausbau der betrieblichen Verankerung, weitere Erfolge in den Verteilungskämpfen und die Stärkung ihrer Mitgliederbasis ihre Organisations- und Verhandlungsmacht gegenüber Kapital und Politik ausbauen. Da die Mitgliedstaaten auch in Zukunft die „Herren der Verträge“ (Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom Dezember 2007) in Europa sein werden, bleiben die nationalen Regierung wichtige Adressaten gewerkschaftlicher Forderungen. Dies gilt für eine solidarische Weiterentwicklung der nationalen Sozialstaaten wie für ein neues, solidarisches Leitprojekt für Europa. Zugleich müssen die Gewerkschaften ihre Organisationsstrukturen und Politikstrategien europäisieren und sich für den Aufbau einer sozialen und demokratischen Öffentlichkeit in Europa engagieren. Aber weil wir all das nur dann erreichen werden, wenn wir die Gefahren für den sozialen Zusammenhalt zwischen den Ländern in der EU und im eigenen Land bekannt machen und für unsere europapolitischen Alternativen mobilisierungsfähig werden, wird die IG Metall im Bezirk Berlin – Brandenburg – Sachsen Europa zum Thema und Arbeitsgegenstand in den Betrieben und Verwaltungsstellen des Bezirks machen.

 

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Von: pf

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