Arbeitszeit

Mitbestimmung: Schlüssel zu humaner Arbeitszeit

12.01.2017 | Wie gut wir leben, wie gesund wir sind, wie reich unser Privatleben ist – das hängt stark davon ab, wie lange wir arbeiten. Auf einer Konferenz in Nauen gab es dazu am 12. Januar eine spannende Diskussion von Metallerinnen und Metallern aus Potsdam, Oranienburg und Ludwigsfelde. Ihr Fazit: Kürzer arbeiten ist besser und gesünder. Viele fragten: Wann kommt für uns die 35-Stunden-Woche?

Arbeitszeit: Jetzt mischen wir uns ein! Foto: Schnelle

Stefan Krull, ehemals Volkswagen-Betriebsrat, heute Aktivist bei Attac: Kürzere Arbeitszeiten helfen, Arbeit fairer zu verteilen Foto: Schnelle

Metallerin Jutta Krellmann aus Niedersachsen: Auch im Westen wächst die Überzeugung, es ist Zeit für die 35 im Osten Foto: Schnelle

Fortschritt muss auch uns nutzen!

Die fortschreitende Innovation und Digitalisierung der Arbeitswelt verlangt Beschäftigten immer mehr Flexibilität und Leistung ab. Doch neue Technologien und Organisationsformen bringen ihnen bislang kaum Erleichterung im Arbeitsalltag, sondern steigern eher die Intensität. Fakt ist: Überbordende Arbeitszeiten, ungesunde Schichtsysteme  und Arbeitshetze müssen gebremst werden. Durch Mitbestimmung. "Wir sind die Experten für unsere Arbeitsplätze, und diese Kompetenz bringen wir jetzt bei der Arbeitszeitgestaltung ein", sagte die IG Metall-Bevollmächtigte Steanie Jahn auf der Konferenz, die den Auftakt mehrerer regionaler Veranstaltungen zur Arbeitszeit im Bezirk bildet. 

 

Fatale Folge des Neoliberalismus

Die Bereitschaft, sich auch ungesunden Arbeitszeitregimes zu fügen, ist ein Ergebnis von 20 Jahren Neoliberalismus, sagte Jutta Krellmann, Metallerin aus Niedersachsen und gewerkschaftspolitische Sprecherin der Links-Fraktion im Bundestag. Diese Bereitschaft schwinde angesichts überlanger Arbeitszeiten momentan bundesweit. Die Erkenntnis "Kürzer arbeiten ist besser und gesünder" setze sich durch. Immer mehr Metallerinnen und Metaller im Westen kämen auch zu dem Schluss, dass die tarifliche Wochenarbeitszeit im Osten an den Westen angeglichen werden müsse, sagte Krellmann. Die Arbeitszeitkampagne der IG Metall weise in die richtige Richtung, denn Arbeitgeber würden die Interessen von Arbeitnehmern ignorieren, so lange diese nicht kraftvoll für deren Durchsetzung eintreten. Skandalös sei es, dass Frauen von den Flexi-Anforderungen der Arbeitgeber häufig noch stärker betroffen seien als Männer.

 

Arbeitszeit ist unfair verteilt

Arbeit und Arbeitszeiten sind in der Bundesrepublik heute so ungerecht verteilt wie noch nie, sagte Stefan Kroll, ehemals VW-Betriebsrat und heute Aktivist beim Bündnis attac. Zwar seien mehr Menschen in Beschäftigung, doch das Arbeitsvolumen habe sich in den zurückliegenden 20 Jahren kaum erhöht, wies er mit Zahlen nach. Zehn Millionen Menschen seien unterbeschäftigt, weil sie erwerbslos oder in minimalen prekären Jobs seien. Die Kosten für Arbeitslosigkeit, Aufstockung geringer Verdiente sowie Steuerausfälle für den Staat belaufen sich auf rund 60 Millionen Euro pro Jahr, so Kroll. "Diese Kosten müssen  bei einer Arbeitszeitverkürzung auf der Haben-Seite verbucht werden, denn mit kürzeren Arbeitszeiten kann Areit auf mehr Menschen verteilt werden", sagte Kroll. Die Digitalisierung der Industrie ermögliche ernorme Produktivitätssteigerungen, die eine weitere Arbeitszeitverkürzung geradezu erfordern. "Gelingt das nicht, werden wir immer länger arbeiten und von der Rationalisierung nicht profitieren", sagte Stefan Kroll.

 

Wer kürzer arbeitet, lebt gesünder

Der Arbeitsschutzexperte Klaus Pickshaus wies darauf hin, dass überlange Arbeitszeiten ein Gesundheitsrisiko sind. Kern einer gesundheitsbewussten Arbeitszeitpolitik sei das Dreieck aus Acht-Stunden-Tag, 40-Stunden-Woche und 11 Stunden Ruhezeit als Mindestbedingungen. Gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse, etwa, dass die Leistungskraft und Konzentration nach acht Arbeitsstunden stark sinken und die Zahl der Arbeitsunfälle deutlich steigt, müssten in die Diskussion einbezogen werden. "Wer auf Menschen achtet, findet verkürzte Arbeitszeit wichtig", sagte Pickshaus.

 

Die Diskussion

In der Diskussion zeigte sich: Wo starke Betriebsräte existieren und ein hoher Organisationsgrad der IG Metall herrscht, lässt sich mitbestimmt viel durchsetzen. So berichtete Holger Wachsmann, Betriebsratsvorsitzender bei ArcelorMittal Eisenhüttenstadt: "Für die Stahlindustrie wurde 2003 die 35-Stunden-Woche erkämpft. Unsere Erfahrungen damit sind gut. Arbeitsplätze hat das jedenfalls nicht gekostet. Als wir vor einigen Jahren vor der Frage standen, Beschäftigte zu entlassen oder die Arbeitszeit nochmals zu verkürzen, führten wir die 32-Stunden-Woche ein – mit teilweisem Lohnausgleich. Als die Krise vorbei war, durften die Leute sich freiwillig für diese kurze Arbeitszeit entscheiden. Heute arbeiten 80 Prozent nach diesem Modell. Der Clou sind die großen Freizeitblöcke zwischen den Schichtzyklen. Damit entsteht mehr Erholungszeit – gut für die Gesundheit. Die Leute wollen nicht mehr zurück zu längerer Arbeitszeit, und das Bedürfnis nach Altersteilzeit, das früher sehr dringend war, ist deutlich gesunken."

 

Carmen Bahlo, Betriebsratsvorsitzende der ZF Getriebe GmbH Brandenburg, berichtete: "2012 bis 2014 arbeiteten wir in Vollkonti-Schichten je zweimal früh, spät, nachts und dann waren vier Tage frei. Insgesamt kamen 33 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich heraus. Unsere Leute waren glücklich. So viel Freizeit hatten wir noch nie, hieß es überall. Es war auch in anderer Hinsicht ein Treffer. 2016 wurden 100 Leute neu eingestellt. Um das gute Schichtsystem weiterzuführen, kommen 2017 nochmals 320 dazu. Dieser Personalaufbau war nur möglich, weil wir einen guten Flächentarifvertrag haben. Es hat sich gelohnt, darauf zu bestehen, dass die Arbeitszeit nun mal von Montag bis Freitag geht und die Tarifpartner zustimmen müssen, wenn das geändert werden soll. Ohne den Tarifvertrag hätten wir jetzt nicht über 400 Neueinstellungen, sondern nur 100. Und noch eins: Mit der Einführung der E-Mobilität und Digitalisierung der Produktion werden wir in wenigen Jahren eine ganz andere Diskussion über verkürzte Arbeitszeit führen, als wir heute für möglich halten."

 

Der Personal-Aderlass bei der Heidelberger Druckmaschinen AG wegen einer ernsten Branchenkrise hat die Belegschaft seit 2008 auf die Hälfte reduziert, sagte Sven Hutengs, Betriebsratsvorsitzender am Standort Brandenburg. "Arbeitszeitverkürzung hat Beschäftigung gesichert", so sein Fazit aus heutiger Sicht. "Die 34-Stunden-Woche mit Teillohnausgleich war sehr gut. Dabei haben wir unsere tariflichen Ansprüche nie aufgegeben, sondern in der Krise nur gestundet. Die Leute entdeckten, dass mehr Zeit für sich und die Familie richtig was wert ist. Diese Erfahrung vergisst niemand. Die Frage ist jetzt nicht, ob die 35-Stunden-Woche kommt, sondern wie!"

 

 

 

 

Von: md

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